Plastische Notationen und Primärzeichnungen
Klein im Format und monumental in ihrer Wirkung, formal reduziert und vielfältig in ihrer
assoziativen Ausdrucksweise, grafisch konzipiert und sich plastisch im Raum behauptend,
hat Robert Schad neue Arbeiten entwickelt, die er als ›AUGENMUSIK‹ bezeichnet. Die
Plastiken aus massivem Vierkantstahl von lediglich 10 mm Durchmesser besitzen ein
Energiepotential, das sich auf experimentelle Art und Weise spontan, dynamisch und
variantenreich vor den Augen des Betrachters entlädt – ein visuelles Ereignis, das mit einer
musikalischen Darbietung vergleichbar ist.
Analog zu graphischen Notationen, die in der avantgardistischen Musik seit den 1950er Jahren Anwendung fanden, hat Schad plastische Notationen in den Raum geschrieben. Im Bereich der Musik bedeutet dieses Verfahren eine Loslösung von Eindeutigkeit, von exakter Wiedergabe des zuvor Festgelegten. Stattdessen steht eine größtmögliche Interpretations - freiheit im Mittelpunkt. Der Komponist liefert eine Ideenvorgabe, die dem Interpreten ausreichend Spielraum für seine individuelle musikalische Umsetzung bietet. Diese Arbeitsweise kommt derjenigen von Robert Schad sehr entgegen. Auch er gibt mit seinen Plastiken Anstöße, eröffnet dem Betrachter die Möglichkeit, seine Kompositionen durch jeweils unterschiedliche, individuelle Wahrnehmung, vielfältig zu interpretieren und dadurch erst zu einem Ganzen zu vervollständigen.
Vertikal aufgerichtet, sich horizontal erstreckend, zusammengeballt, verdichtet, frei schwebend, sich windend, gerade ausgerichtet, rhythmisch akzentuiert, ruhig fließend – ohne Anfang und Ende erobern die Linien aus Stahl den Raum. Sie befinden sich im Hier und Jetzt, sind jedoch zugleich auf Unendlichkeit ausgerichtet. In ihrer Gestalt manifestiert sich das spontane Aufbauen der Arbeiten aus Fragmenten, die sich wie Motive zu einem Thema zu sammen - schließen. Das Motiv, aus dem Lateinischen „movere“, bewegen, abgeleitet, ist die kleinste sinnvolle Gestalteinheit einer musikalischen Komposition. Sie zeichnet sich durch Rhythmus, eine melodische Gestalt, eine harmonische Struktur beziehungsweise das Zusammentreffen dieser Elemente aus. Mehrere dieser Motive fügen sich zu einem tragenden Gedanken zusammen und sind nun als Thema auf Ver arbeitung, das heißt Variation, angelegt.
Robert Schad baut seine Plastiken spontan aus bereits zugeschnittenen Stahlelementen auf und schweißt diese zusammen. Einzelne Teile können entfernt und durch neue ersetzt werden, ähnlich dem Komponieren in der Musik. Der Künstler selbst spricht von „Raumschrift“, wenn er seine Arbeitsweise erläutert. Die massiven, starren Teilstücke aus Stahl verbindet Schad zu Linien, die mehr oder weniger geschwungen, abrupt abgeknickt oder in einem ruhigen, nahezu geraden Verlauf als abstrakte Zeichen im Raum Assoziationen an musikalische Hörerlebnisse wachrufen.
Leichte Melodien, schwere Akkorde, eine Sopranstimme, stakkatohafte Rhythmen, Pausen, ein laut einsetzendes Orchester, jazzige Improvisationen, eine leise Tonabfolge, furioses Finale. Form und Charakter der prägnanten Formverläufe sind keineswegs festgelegt, sondern leben von permanenter Veränderung. Dieses sukzessive Verändern in Form der Variation als Grundprinzip des Komponierens und Improvisierens in der Musik charakterisiert in hohem Maße die Vorgehensweise von Robert Schad. Als Bildhauer setzt er sich mit plastischen Form- und Raumproblemen ebenso auseinander wie mit musikalischen Phänomenen. Er bedient sich dabei einer Sprache, die es ihm erlaubt, verschiedene Kunstgattungen in einen lebendigen Dialog zu bringen. Bereits in der Vergangenheit ließ Schad sein Interesse am Ausdruckstanz in seine Werke einfließen. Trotz ihrer weitgehenden Abstraktion vom naturnahen Vorbild ist die menschliche Figur in ihren verschiedenen Körperhaltungen in seinen Monumental plastiken präsent. Robert Schad sieht sich bei deren Entstehung in der Rolle eines Choreo graphen, wobei die Tänzer seine Plastiken sind. Die neuen Arbeiten wirken abstrakter, offener, freier von figürlichen Assoziationen.
Mit seinen plastischen Notationen gelingt Schad eine subtile Gratwanderung zwischen einer rational konzipierten und einer emotional freien Ausdrucksform. Neben der kompositorischen Gestaltung nimmt das improvisatorische Vorgehen, bei dem die Aleatorik eine wichtige Rolle spielt, einen großen Raum ein. Die Aleatorik wurde innerhalb der Neuen Musik nach 1950 als Kompositionsart mit dem Ziel eingesetzt, das musikalische Endergebnis von vornherein dem Zufall zu überlassen. Die Freiheit der ausführenden Musiker bestand darin, beispiels - weise Teile eines Stückes auszutauschen oder wegzulassen, die Tonhöhen und Tondauern frei zu wählen, an einer beliebigen Stelle einzusetzen oder das Spielen zu beenden. Ohne die Gesamtform aus den Augen zu verlieren, lässt sich Schad von genau dieser Freiheit antreiben. Er gibt der Linie freien Lauf, lässt sie tun, was sie will und plötzlich endet sie oder befindet sich an dieser Stelle ein (Neu-)Beginn? Vielleicht markiert dieses vermeintliche Ende lediglich eine Pause? Der ewige Kreislauf vom Werden und Vergehen kommt einem in den Sinn. Pflanzliches Wachstum scheint, wie in einigen früheren Beispielen, eindrücklich verkörpert. Aus einer horizontal angelegten, eingerollten Linie ragen drei stählerne Linien vertikal empor, von denen zwei in einer Verdickung enden. Sie wirken wie Stengel mit geschlossenen Blüten. Eine andere Assoziation führt wieder zur Musik. Drei einzelne Stimmen oder Instrumente lösen sich aus dem musikalischen Verlauf, um sich improvisatorisch zu entfalten oder als Trio zu dominieren. Die beiden durch Stahlsegmente verstärkten Stellen erinnern auch an Cluster – Akkorde, die eine Hörempfindung zwischen Klang und Geräusch hervorrufen –, die in der graphischen Notation oft als schwarze Balken sichtbar sind. Sie wurden in der Musik um 1960 häufig im Zusammenhang mit der Klangfarbenkomposition verwendet.
Bei aller den Zufall mit einbeziehenden Freiheit fallen in Schads Ikonographie immer wieder Elemente auf, die wiederkehren – freilich in unterschiedlichen Kontexten und Anordnungen – die man als Leitmotive bezeichnen kann, zum Beispiel die Schlaufe oder der Stab. Die Schlaufe findet sich als Teil des Formverlaufs einer grazil in den Raum geschriebenen, vertikal verlaufenden Linie, als tragendes Element, von dem sich drei Horizontale in den Raum erstrecken; die unterste waagerecht verlaufende Linie steht zusätzlich mit einer kleineren, fragmentierten Schlaufe in Verbindung oder als geschlossene Linie, die durch ihre Windungen verschiedene Schlaufenformen ausbildet. Auch die Stabform findet sich in unterschiedlichen Zusammenhängen wieder. Als gerade ausgerichtetes Segment kann sie richtungsweisend sein, nach oben und unten, sie kann aus der rhythmischen Notation ausbrechen oder sie steht innerhalb eines Werkes durch eine strenge vertikale Anordnung in Kontrast zu einem lockeren, dynamischen, linearen Formverlauf.
„Der Ablauf in der Zeit lässt uns die Musik als etwas Immaterielles, Vergängliches erleben, das sich der begrifflichen Erkenntnis entzieht. Vielmehr erleben wir uns geradezu als körperlich und emotional affiziert“, formuliert Ursula Brandstätter in ihrer Analyse der Transformationen zwischen den Künsten. Ein emotionales Berührtsein stellt sich zweifellos auch in der unmittelbaren Konfrontation mit Schads Plastiken ein, in denen er musikalische Gestaltungsmittel aufgreift und in eine dreidimensionale Sprache übersetzt. Voraussetzung dafür ist eine Offenheit und Bereitschaft des Betrachters, sich mit den Werken zu kon - frontieren, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, ihre Wirkung zuzulassen. „Zur Berührung gehört wesentlich und grundlegend die Wechselseitigkeit der Empfindung und Wahrnehmung und das heißt die Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt. [...] Ich werde berührt, ebenso wie ich berühre, der Gegenstand, den ich ergreife, ergreift mich auch.“
Robert Schad materialisiert mit seinen plastischen Notationen Zeit und Raum. In ihrer innehaltenden Bewegung verkörpern die Arbeiten sowohl das Vergangene als auch das Zukünftige. Sie tragen auf diese Art und Weise Zeit in sich. Das Zeitmaß oder die Geschwindigkeit einer musikalischen Komposition wird als Tempo bezeichnet. Die Angaben der Tempi sagen auch etwas über den Charakter eines Stückes aus, z. B. largo, adagio im Sinne von langsam, getragen; andante, moderato bedeutet gemäßigt, während allegro, vivace einen schnellen, lebhaften Vortrag kennzeichnet. Alle diese näheren Bestimmungen kann man auch beim Betrachten der neuen Plastiken von Robert Schad erspüren. Ihre unter - schiedlichen Bewegungsabläufe suggerieren äußerst gegensätzliche Empfindungen von Geschwindigkeit und damit von Zeit. Eine langsame, sich schrittweise entfaltende Linien - formation steht beispielsweise neben einer verdichteten Form, deren ständige Richtungswechsel von oben nach unten und umgekehrt dynamische Schnelligkeit und Spontaneität verkörpern.
Die Linie verwandelt als Hauptgestaltungsmittel in Robert Schads OEuvre unbestimmte Räume in konkret erfahrbare Orte. Sie steht in einem permanenten Dialog mit dem Raum, in den sie eingeschrieben ist. Dieser Umraum ist zugleich Teil der jeweiligen plastischen Notation und präsentiert sich als Leer- beziehungsweise Negativform oder als Zwischenraum. Zwischen räume eröffnen Ein- und Durchblicke, unterstreichen die bewusst offene Struktur der neuen Werkgruppe. Diese für Schads ›AUGENMUSIK‹ charakteristische Offenheit zielt sowohl auf formale Veränderung als auch auf mediale Grenzüberschreitung. „Fest steht, dass, wann immer Künstler diese Grenzgänge wagen, die Kunst neue Impulse enthält. Die Beschäftigung mit den Grenzen und Übergängen führt die Selbstverständlichkeiten vor Augen, indem sie das Gewohnte bewusst macht, und lotet neue Möglichkeiten aus. [...] Die Werke sind in einem oszillierenden Zwischenbereich angesiedelt: zwischen Bild und Klang, zwischen Raum und Zeit, zwischen Ferne und Nähe, zwischen Darstellung und Ausdruck, zwischen Zeichen und Material.“ Gerade dieses Changieren, diese bewusste Uneindeutigkeit im Sinne einer offenen Gestaltungsweise erlaubt eine über die visuell wahrnehmbare Form hinausgehende sinnliche Rezeption.
Kleinformate dienten Robert Schad bisher als Maquetten. Seine kleinen „Augenmusikstücke“ dagegen begreift er, wie er selbst sagt, erstmals als ernst zu nehmende Plastiken. Sie sind es auch, die ihm jetzt, nach jahrzehntelanger „zeichnerischer Abstinenz“, den Anstoß gaben, wieder mit der Hand zu zeichnen. „Ich habe das Gefühl der Befreiung, es sprudelt aus mir heraus“, so Schad. „Mit differenziert energetischem Strich mache ich im Moment ‘Primärlinien’, das heißt konzentriert lineare Gesten auf dem schmalen Grat zwischen Spontaneität und Kalkül.“ Um sich der Sprache der Musik zu bedienen, könnte man sagen Schads Arbeitsweise bewegt sich auch in diesem Medium zwischen Improvisation und Komposition.
Die mit schwarzer Wachskreide auf Papier hingeschriebenen Primärzeichnungen nennt Schad „gedankliche Fragmente“. Horizontal und vertikal ausgerichtet, schlaufen- und kreisförmig, verdichtet und locker aufeinander bezogen, sich treffend und auseinanderstrebend, immer macht die Linie als Gestaltungsmittel Zeitabläufe sichtbar. Spielerisch, experimentell bewegt sie sich auf der Papieroberfläche. Zugleich wird neben der starken emotionalen Kraft auch eine zielgerichtete rationale Formfindung spürbar. Allerdings verweist diese nicht auf Figuratives, wie das häufig bei den monumentalen Stahlplastiken des Künstlers der Fall ist. Vielmehr geht es bei der abstrakten, freien Linienführung um das Ausloten des Raumes. Geordnete, strukturierte Linienkompositionen stehen neben dynamisch-bewegten improvisierten Varianten. Einige Blätter greifen Beispiele aus dem Formenrepertoire der plastischen Notationen auf, andere entstehen aus sich heraus, folgen einem intutiven Drang, einer eigenen Gesetzmäßigkeit. Körperhaftes und Gebautes stehen gleichberechtigt neben variantenreicher Linienrhythmik.
Ein betont offener, abstrakter Charakter der neuen Plastiken und Zeichnungen unterstreicht die Prozesshaftigkeit ihres Entstehens und stellt die Linienführung der Hand in den Vordergrund. In einer dynamisch-gestischen Arbeitsweise formuliert Robert Schad Linien im Raum und auf Papier, die sich als emotionsgeladene Schriftzüge zu abstrakten Zeichen formieren, indem sie auf musikalische Phänomene der Neuen Musik rekurrieren. Ein permanentes Sichverwandeln und Erneuern ist intendiert. Materielle Schwere und entmaterialisierte Leichtigkeit gehen dabei eine ideale Verbindung ein. Als Fragmente der Unendlichkeit in Raum und Zeit wohnt den Werken der ›AUGENMUSIK‹ ein nahezu grenzenloses Ausdruckspotential inne, das Zukünftiges erwarten lässt.
Die Linie verwandelt als Hauptgestaltungsmittel in Robert Schads OEuvre unbestimmte Räume in konkret erfahrbare Orte. Sie steht in einem permanenten Dialog mit dem Raum, in den sie eingeschrieben ist. Dieser Umraum ist zugleich Teil der jeweiligen plastischen Notation und präsentiert sich als Leer- beziehungsweise Negativform oder als Zwischenraum. Zwischen räume eröffnen Ein- und Durchblicke, unterstreichen die bewusst offene Struktur der neuen Werkgruppe. Diese für Schads ›AUGENMUSIK‹ charakteristische Offenheit zielt sowohl auf formale Veränderung als auch auf mediale Grenzüberschreitung. „Fest steht, dass, wann immer Künstler diese Grenzgänge wagen, die Kunst neue Impulse enthält. Die Beschäftigung mit den Grenzen und Übergängen führt die Selbstverständlichkeiten vor Augen, indem sie das Gewohnte bewusst macht, und lotet neue Möglichkeiten aus. [...] Die Werke sind in einem oszillierenden Zwischenbereich angesiedelt: zwischen Bild und Klang, zwischen Raum und Zeit, zwischen Ferne und Nähe, zwischen Darstellung und Ausdruck, zwischen Zeichen und Material.“4 Gerade dieses Changieren, diese bewusste Uneindeutigkeit im Sinne einer offenen Gestaltungsweise erlaubt eine über die visuell wahrnehmbare Form hinausgehende sinnliche Rezeption.
Annette Reich